Da der Völkerbund die Begründung des Weltfriedens zum Ziele hat und ein solcher Friede nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden kann;
da ferner Arbeitsbedingungen bestehen, welche für eine große Zahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß eine den Weltfrieden und die Welteintracht gefährliche Unzufriedenheit entsteht, und da eine Verbesserung dieser Bedingungen dringend erforderlich ist, zum Beispiel hinsichtlich der Regelung der Arbeitszeit, der Festsetzung einer Höchstdauer des Arbeitstages und der Arbeitswoche, die Regelung des Arbeitsmarktes, der Verhütung der Arbeitslosigkeit, der Gewährleistung von Löhnen, welche angemessene Lebensbedingungen ermöglichen, des Schutzes der Arbeiter gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle, des Schutzes der Kinder, Jugendlichen und Frauen, der Alters- und Invalidenversicherung, des Schutzes der Interessen der im Ausland beschäftigten Arbeiter, der Anerkennung des Grundsatzes der Freiheit gewerkschaftliche Zusammenschlusses, der Gestaltung des beruflichen und technischen Unterrichts und ähnlicher Maßnahmen;
da endlich die Nichtannahme einer wirklich menschlicher Arbeitsordnung durch irgendeine Regierung die Bemühungen der anderen, auf die Verbesserung des Loses der Arbeiter in ihrem eigenen Lande bedachten Nationen hemmt,
haben die Hohen vertragschließenden Teile, geleitet sowohl von den Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit als auch von dem Wunsche, einen dauernden Weltfrieden zu sichern, folgendes vereinbart:
Artikel 332.
Es wird ein ständiger Verband begründet, der an der Verwirklichung des in der Einleitung dargelegten Planes zu arbeiten berufen ist.
Die ursprünglichen Mitgliedstaaten des Völkerbundes sind zugleich die ursprünglichen Mitgliedstaaten dieses Verbandes, später bringt die Mitgliedschaft im Völkerbunde die Mitgliedschaft in dem genannten Verbande mit sich.
Artikel 333.
Der ständige Verband soll umfassen:
1. eine Hauptversammlung von Vertretern der Mitgliedstaaten,
2. ein Internationales Arbeitsamt unter Leitung des im Artikel 393 vorgesehenen Verwaltungsrats.
Artikel 334.
Die Hauptversammlung der Vertreter der Mitgliedstaaten hält je nach Bedarf, aber mindestens einmal jährlich ihre Tagungen ab. Sie setzt sich aus je vier Vertretern eines jeden Mitgliedstaates zusammen. Von diesen sind zwei Regierungsvertreter; von den zwei anderen vertritt je einer die Arbeitgeber und je einer die Arbeitnehmer eines jeden Mitgliedstaats.
Jedem Vertreter können technische Ratgeber beigegeben werden. Ihre Zahl darf höchstens zwei für jeden einzelnen Gegenstand betragen, der auf der Tagesordnung der Tagung steht. Sind Fragen, die besonders die Frauen angehen, in der Hauptversammlung zu erörtern, so so muß wenigstens eine der zu technischen Ratgebern bestimmten Personen eine Frau sein.
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, diejenigen Vertreter und technischen Ratgeber, die nicht Regierungsvertreter sind, im Einverständnis mit den maßgebenden Berufsverbänden der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer des betreffenden Landes zu bestimmen, vorausgesetzt, daß solche Verbände bestehen.
Die technischen Ratgeber dürfen nur auf Antrag des Vertreters, dem sie beigeordnet sind, und mit besonderer Genehmigung des Vorsitzenden der Versammlung das Wort ergreifen. An den Abstimmungen nehmen sie nicht teil.
Ein Vertreter kann durch eine an den Vorsitzenden gerichtete schriftliche Mitteilung einen seiner technischen Ratgeber als seinen Stellvertreter bezeichnen; der Stellvertreter kann in dieser Eigenschaft an den Beratungen und Abstimmungen teilnehmen.
Die Namen der Vertreter und ihrer technischen Ratgeber werden dem Internationalen Arbeitsamt durch die Regierung eines jeden Mitgliedstaats mitgeteilt.
Die Vollmachten der Vertreter und ihrer technischen Ratgeber werden von der Versammlung geprüft; diese kann mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen die Zulassung eines jeden Vertreters oder technischen Ratgebers ablehnen, der nach ihrer Entscheidung nicht gemäß den Bestimmungen dieses Artikels ernannt worden ist.
Artikel 335.
Jeder Vertreter hat das Recht, unabhängig für sich selbst über alle der Versammlung unterbreiteten Fragen abzustimmen.
Sollte einer der Mitgliedstaaten einen nicht der Regierung angehörenden Vertreter, auf den er einen Anspruch hat, nicht bestimmt haben, so steht zwar dem andern, nicht der Regierung angehörenden Vertreter das Recht zur Teilnahme an den Beratungen der Versammlung zu, aber kein Stimmrecht.
Lehnt die Versammlung kraft der ihr durch Artikel 389 verliehenen Vollmacht die Zulassung eines Vertreters eines der Mitgliedstaaten ab, so sind die Bestimmungen dieses Artikels so anzuwenden, als ob der betreffende Vertreter nicht ernannt worden wäre.
Artikel 336.
Die Tagungen der Versammlung finden am Sitze des Völkerbundes oder an jedem anderen Ort statt, der in einer früheren Tagung durch die Versammlung mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertreter abgegebenen Stimmen bezeichnet worden ist.
Artikel 337.
Das internationale Arbeitsamt wird am Sitze des Völkerbundes errichtet und bildet einen Bestandteil der Bundeseinrichtungen.
Artikel 338.
Das internationale Arbeitsamt tritt unter die Leitung eines aus vierundzwanzig Mitgliedern bestehenden Verwaltungsrats; diese Mitglieder werden auf Grund folgender Bestimmungen ernannt:
Der Verwaltungsrat des internationalen Arbeitsamtes setzt sich folgendermaßen
zusammen:
12 Personen als Vertreter der Regierungen,
6 Personen, die von den Vertretern der Arbeitgeber in der Konferenz
gewählt sind,
6 Personen, die von den Vertretern der Angestellten und Arbeiter in
der Konferenz gewählt werden.
Von den zwölf die Regierung vertretenden Personen werden acht durch die Mitgliedstaaten ernannt, denen die größte industrielle Bedeutung zukommt, und vier durch die Mitgliedstaaten, die von den Regierungsvertretern in der Hauptversammlung unter Ausschluß der Vertreter der vorerwähnten acht Mitgliedstaaten bestimmt worden sind.
Etwaige Streitigkeiten über die Frage, welchen Mitgliedstaaten die größte industrielle Bedeutung zukommt, werden durch den Rat des Völkerbundes entschieden.
Die Dauer des Auftrags der Mitglieder des Verwaltungsrates beträgt drei Jahre. Die Art der Besetzung erledigter Sitze und andere Fragen gleicher Art können von dem Verwaltungsrat, vorbehaltlich der Zustimmung der Hauptversammlung, geregelt werden.
Der Verwaltungsrat wählt eines seiner Mitglieder zum Vorsitzenden und stellt seine Geschäftsordnung auf. Er bestimmt selbst den Zeitpunkt seines jedesmaligen Zusammentritts. Eine besondere Tagung ist jedesmal abzuhalten, wenn wenigstens zehn Mitglieder des Verwaltungsrats schriftlich einen entsprechenden Antrag stellen.
Artikel 339.
An der Spitze des Internationalen Arbeitsamts tritt ein Leiter; er wird durch den Verwaltungsrat ernannt, empfängt von ihm seine Anweisungen und ist ihm gegenüber sowohl für den Geschäftsgang als auch für die Erfüllung aller ihm anvertrauten Aufgaben verantwortlich.
Der Leiter oder sein Stellvertreter wohnen allen Sitzungen des Verwaltungsrates bei.
Artikel 340.
Das Personal des Internationalen Arbeitsamts wird von dem Leiter ausgewählt. Soweit es mit der gebotenen Rücksicht auf die Erzielung von möglichst guten Arbeitsleistungen vereinbar ist, hat sich die Wahl auf Personen verschiedener Staatsangehörigkeit zu erstrecken. Eine bestimmte Anzahl dieser Personen müssen Frauen sein.
Artikel 341.
Die Tätigkeit des Internationalen Arbeitsamts besteht in der Sammlung und Weiterleitung aller Unterlagen, die sich auf die internationale Regelung der Lage der Arbeiter und der Arbeitsverhältnisse beziehen, sowie besonders in der Bearbeitung der Fragen, die den Beratungen der Hauptversammlung zum Zweck des Abschlusses internationaler Übereinkommen vorgelegt werden sollen, sowie endlich in der Durchführung aller besonderen, von der Hauptversammlung angeordneten Untersuchungen.
Das Internationale Arbeitsamt hat die Aufgabe, die Tagesordnung für die Tagungen der Hauptversammlung vorzubereiten.
Es erfüllt ferner gemäß den Bestimmungen dieses Teils des gegenwärtigen Vertrags die ihm bei allen internationalen Streitigkeiten zufallenden Obliegenheiten.
Es verfaßt und veröffentlicht in französischer und englischer und in jeder anderen Sprache, die der Verwaltungsrat für angebracht hält, eine in regelmäßiger Wiederkehr erscheinende Zeitschrift, die sich den die Industrie und Arbeit betreffenden Fragen von internationalem Interesse widmet.
Überhaupt hat es neben der in diesem Artikel bezeichneten Tätigkeit alle anderen Befugnisse und Obliegenheiten, die ihm zu übertragen die Hauptversammlung für angebracht hält.
Artikel 342.
Die Ministerien der Mitgliedstaaten, zu deren Zuständigkeit die Arbeiterfragen gehören, können mit dem Leiter durch Vermittelung des Vertreters ihrer Regierung beim Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamts oder in Ermangelung eines solchen Vertreters durch Vermittelung eines anderen dazu geeigneten, von der beteiligten Regierung damit beauftragten Beamten unmittelbaren Geschäftsverkehr unterhalten.
Artikel 343.
Das Internationale Arbeitsamt kann die Mitwirkung des Generalsekretärs des Völkerbunds bei allen Fragen in Anspruch nehmen, bei denen er zu einer solchen Mitwirkung in der Lage ist.
Artikel 344.
Jedes der Mitgliedstaaten bezahlt die Reise- und Aufenthaltskosten seiner Vertreter und ihrer technischen Ratgeber sowie gegebenenfalls die Kosten seiner an den Tagungen der Hauptversammlung und des Verwaltungsrats teilnehmenden Beauftragten.
Alle anderen Kosten des Internationalen Arbeitsamtes, der Tagungen der Hauptversammlung oder des Verwaltungsrats werden dem Leiter durch den Generalsekretär des Völkerbunds zu Lasten des allgemeinen Haushalts des Völkerbundes erstattet.
Der Leiter ist dem Generalsekretär des Völkerbundes für die Verwendung aller Gelder, die ihm nach den Bestimmungen dieses Artikels ausgezahlt werden, rechenschaftspflichtig.
Artikel 345.
Nach Prüfung aller Vorschläge, die von der Regierung eines der Mitgliedstaaten oder von irgendeinem im Artikel 389 bezeichneten Berufsverband für die auf die Tagesordnung zu bringenden Punkte gemacht sind, wird die Tagesordnung der Tagungen der Hauptversammlung vom Verwaltungsrat festgesetzt.
Artikel 346.
Der Leiter versieht das Amt des Sekretärs der Hauptversammlung; er hat die Tagesordnung jeder Tagung vier Monate vor deren Eröffnung an alle Mitgliedstaaten und durch deren Vermittlung an die Vertreter, die nicht Regierungsvertreter sind, sobald sie bestimmt sind, gelangen zu lassen.
Artikel 347.
Die Regierung eines jeden Mitgliedstaats hat das Recht, gegen die Aufnahme einer oder mehrerer der vorgesehenen Punkte in die Tagesordnung der Tagung Einspruch zu erheben. Die Einspruchsbegründung ist in einer an den Leiter zu richtenden erläuternden Denkschrift darzulegen. Dem Leiter liegt es ob, die Denkschrift den Mitgliedstaaten des ständigen Verbandes mitzuteilen.
Die beanstandeten Punkte bleiben trotzdem auf der Tagesordnung, wenn die Versammlung mit Zweidrittelmehrheit der durch die anwesenden Mitglieder abgegebenen Stimmen so beschließt.
Jede Frage, deren Prüfung die Hauptversammlung außerhalb des im vorigen Absatz vorgesehenen Verfahrens mit der gleichen Zweidrittelmehrheit beschließt, ist auf die Tagesordnung der folgenden Tagung zu setzen.
Artikel 348.
Die Hauptversammlung stellt ihre Geschäftsordnung auf;. sie wählt ihren Vorsitzenden; sie kann Ausschüsse einsetzen, denen die Erstattung von Berichten über alle von ihr für prüfungsbedürftig befundenen Fragen obliegt.
Die einfache Mehrheit der von den anwesenden Mitgliedern der Hauptversammlung abgegebenen Stimmen ist entscheidend, es sei denn, daß eine größere Mehrheit ausdrücklich durch andere Artikel dieses Abschnitts des gegenwärtigen Vertrags vorgeschrieben ist.
Die Abstimmung ist unwirksam, wenn die Zahl der abgegebenen Stimmen geringer ist als die Hälfte der in der Tagung anwesenden Vertreter.
Artikel 349.
Die Hauptversammlung kann den von ihr eingesetzten Ausschüssen technische Ratgeber mit beratender, aber nicht beschließender Stimme beigeben.
Artikel 350.
Erklärt sich die Hauptversammlung für die Annahme von Anträgen, die in Verbindung mit einem Gegenstand der Tagesordnung stehen, so hat sie zu bestimmen, ob diese Anträge die Form haben sollen: a) eines "Vorschlages", der den Mitgliedstaten zur Prüfung vorzulegen ist, damit er in der Form eines Landesgesetzes oder anderswie zur Ausführung gelangt, b) oder eines Entwurfs zu einem durch die Mitgliedstaaten zu ratifizierenden internationalen Übereinkommen.
In beiden Fällen bedarf es zur Annahme eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkommen in der Endabstimmung der Hauptversammlung einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen der anwesenden Vertreter.
Bei der Aufstellung eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkomme, das allgemeine Geltung erhalten soll, hat die Hauptversammlung auf diejenigen Länder Rücksicht zu nehmen, in denen das Klima, die unvollkommene Entwicklung der gewerblichen Organisation oder andere Sonderumstände die Verhältnisse der Industrie wesentlich abweichend gestalten. Sie hat in solchen Fällen die Abänderungen in Anregung zu bringen, die sie angesichts der besonderen Verhältnisse dieser Länder für notwendig erachtet.
Eine Ausfertigung des Vorschlags oder des Entwurfs des Übereinkommens wird vom Vorsitzenden der Hauptversammlung oder dem Leiter unterzeichnet und dem Generalsekretär des Völkerbunds behändigt. Dieser übermittelt jedem Mitgliedstaat eine beglaubigte Abschrift des Verschlags oder des Entwurfs des Übereinkommens.
Jeder Mitgliedstaat verpflichten sich, spätestens ein Jahr nach Schluß der Tagung der Hauptversammlung (oder wenn dieses infolge von außergewöhnlichen Umständen innerhalb eines Jahres unmöglich ist, sobald es anhängig ist, aber unter keinen Umständen später als achtzehn Monate nach Schluß der Tagung der Hauptversammlung), den Vorschlag oder den Entwurf zu einem Übereinkommen der zuständigen Stellen zu unterbreiten, damit er zum Gesetz erhoben oder eine anderweitige Maßnahme getroffen wird.
Handelt es sich um einen Vorschlag, so haben die Mitgliedstaaten den Generalsekretär von den getroffenen Maßregeln in Kenntnis zu setzen.
Handelt es sich um den Entwurf zu einem Übereinkommen, so hat der Mitgliedstaat, der die Zustimmung der zuständigen Stelle oder Stellen erhält, die förmliche Ratifikation des Übereinkommens dem Generalsekretär mitzuteilen und die erforderlichen Maßregeln zur Durchführung der Bestimmungen des betreffenden Übereinkommens zu treffen.
Hat ein Vorschlag keine gesetzgeberische oder andere Maßregeln zur Folge, die ihm Wirkung verschaffen, oder findet ein Entwurf zu einem Übereinkommen nicht die Zustimmung der dafür zuständigen Stelle oder Stellen, so hat der Mitgliedstaat keine weitere Verpflichtung.
Handelt es sich um einen Bundesstaat, dessen Befugnis zum Beitritt zu einem Arbeitsübereinkommen bestimmten Beschränkungen unterliegt, so hat die Regierung das Recht, den Entwurf eines Übereinkommens, der unter diese Beschränkung fällt, als einfachen Vorschlag zu betrachten; in diesem Falle gelangen die Bestimmungen dieses Artikels über Vorschläge zur Anwendung.
Der vorstehende Artikel ist nach folgendem Grundsatz auszulegen:
In keinem Falle begründet die Annahme eines Vorschlags oder des
Entwurfs eines Übereinkommens durch die Hauptversammlung für
einen Mitgliedstat die Verpflichtung, den durch seine Gesetzgebung den
betreffenden Arbeitern schon gewährten Schutz zu vermindern.
Artikel 351.
Jedes dergestalt ratifizierte Übereinkommen wird vom Generalsekretär des Völkerbundes verzeichnet; es verpflichtet aber nur die Mitgliedstaaten, von denen es ratifiziert worden ist.
Artikel 352.
Vereinigt ein Entwurf bei der endgültigen Gesamtabstimmung nicht die Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen auf sich, so steht den Mitgliedstaaten des ständigen Verbandes, die dies wünschen, frei, ein Sonderübereinkommen mit dem gleichen Inhalt zu schließen.
Jedes derartige Übereinkommen ist durch die beteiligten Regierungen dem Generalsekretär des Völkerbundes mitzuteilen, der es verzeichnen läßt.
Artikel 353.
Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, dem Internationalen Arbeitsamt einen jährlichen Bericht über seine Maßnahmen zur Durchführung der Übereinkommen, denen er beigetreten ist, vorzulegen. Die Form dieser Berichte bestimmt der Verwaltungsrat; sie müssen die von ihm geforderten Einzelheiten enthalten. Der Leiter legt der nächstfolgenden Tagung der Hauptversammlung einen zusammenfassenden Bericht aus diesen Berichten vor.
Artikel 354.
Jede an das Internationale Arbeitsamt gerichtete Beschwerde eines Berufsverbandes von gewerblichen Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, die sich darauf gründet, daß irgendein Mitgliedstaat nicht in befriedigender Weise ein von ihm angenommenes Übereinkommen ausgeführt habe, kann durch den Verwaltungsrat der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, übermittelt werden. Diese Regierung kann ersucht werden, sich zur Sache zu erklären.
Artikel 355.
Geht von der in Frage kommenden Regierung in angemessener Frist keine Erklärung ein, oder hält der Verwaltungsrat die eingehende Erklärung für unzureichend, so hat der Verwaltungsrat das Recht, die eingegangene Beschwerde und gegebenenfalls die erteilte Antwort zu veröffentlichen.
Artikel 356.
Jede Mitgliedstaat kann beim Internationalen Arbeitsamt eine Beschwerde gegen einen anderen Mitgliedstaat vorbringen, der nach seiner Ansicht ein von beiden Teilen auf Grund der vorstehenden Artikel ratifiziertes Übereinkommen nicht in befriedigender Weise durchführt.
Der Verwaltungsrat kann, wenn er es für angebracht hält, sich mit der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, in der im Artikel 409 bezeichneten Weise in Verbindung setzen, bevor er nach dem weiter unten abgegebenen Verfahren einem Untersuchungsausschuß mit der Angelegenheit betraut.
Hält es der Verwaltungsrat nicht für nötig, die Beschwerde der in frage kommenden Regierung mitzuteilen, oder läuft bei ihm nach erfolgter Mitteilung befriedigende Antwort innerhalb einer angemessenen Frist ein, so kann er die Bildung eines Untersuchungsausschusses herbeiführen, dem es obliegt, die streitige Frage zu prüfen und darüber zu berichten.
Das gleiche Verfahren kann von dem Verwaltungsrat entweder von Amts wegen oder auf die Beschwerde eines Vertreters, der Mitglied der Hauptversammlung ist, eingeschlagen werden.
Kommt eine auf Grund der Artikel 410 oder 411 aufgeworfene Frage vor den Verwaltungsrat, so hat die in Frage stehende Regierung, falls sie nicht schon einen Abgeordneten im Verwaltungsrat hat, das Recht, einen Vertreter zur Teilnahme an den betreffenden Beratungen des Verwaltungsrats zu ernennen. Der für diese Verhandlungen bestimmte Zeitpunkt ist der in Frage kommenden Regierung rechtzeitig mitzuteilen.
Artikel 357.
Der Untersuchungsausschuß wird auf folgende Weise gebildet:
Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags drei in industrielle Fragen maßgebende Personen zu bezeichnen, eine zur Vertretung der Arbeitgeber, eine zweite zur Vertretung der Arbeitnehmer vertritt und eine, von beiden unabhängige dritte. Diese Personen stellen zusammen eine Liste auf, aus der die Mitglieder des Untersuchungsausschusses zu wählen sind.
Der Verwaltungsrat hat das Recht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Bestellung der bezeichneten Personen vorliegen und mit einer Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen die Ernennung derjenigen abzulehnen, deren Eigenschaften den Anforderungen dieses Artikels nicht genügen.
Auf Antrag des Verwaltungsrates bestimmt der Generalsekretär des Völkerbundes drei Personen, und zwar je eine aus jeder der drei Klassen der Liste. Außerdem bestimmt er eine der drei Personen zum Vorsitzenden des Ausschusses. Keine der auf diese Weise bestimmten drei Personen darf zu einem an unmittelbar an der Beschwerde beteiligten Mitgliedstaaten gehören.
Artikel 358.
Wird auf Grund des Artikels 31 eine Beschwerde vor einem Untersuchungsausschuß verweisen, so verpflichtet sich jeder Mitgliedstaat, gleichviel, ob er unmittelbar an der Beschwerde beteiligt ist oder nicht, dem Ausschuß alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die er zu dem Beschwerdepunkt besitzt.
Artikel 359.
Nach eingehender Prüfung der Beschwerde erstattet der Untersuchungsausschuß einen Bericht; in diesem legt er seine tatsächlichen Feststellungen, die eine genaue Beurteilung des Streitfalls in seinem ganzen Umfang gestatten, so wie seine Vorschläge zur Zufriedenstellung der beschwerdeführenden Regierung und hinsichtlich der dazu nötigen Fristen nieder.
Gegebenenfalls hat der Bericht zugleich die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen zu bezeichnen, die der Ausschuß der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, gegenüber für angebracht hält und deren Anwendung durch die übrigen Regierungen ihm gerechtfertigt erscheint.
Artikel 360.
Der Generalsekretär des Völkerbunds teilt den Bericht des Untersuchungsausschusses jeder an dem Streitfall beteiligten Regierung mit und veranlaßt seine Veröffentlichung.
Jede der beteiligten Regierungen muß dem Generalsekretär des Völkerbunds binnen einem Monat mitzuteilen, ob sie die in dem Ausschußbericht enthaltenen Vorschläge annimmt oder nicht, und falls sie diese nicht annimmt, ob sie den Streitfall dem ständigen Internationalen Gerichtshof des Völkerbunds zu unterbreiten wünscht.
Artikel 361.
Ergreift ein Mitgliedstaat bezüglich eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkommen die in Artikel 405 vorgesehenen Maßnahmen nicht, so hat jeder andere Mitgliedstaat das Recht, den ständigen Internationalen Gerichtshof anzurufen.
Artikel 362.
Gegen die Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs über eine Beschwerde oder eine ihm gemäß den Artikeln 415 oder 416 unterbreitete Streitfrage ist kein Rechtsmittel gegeben.
Artikel 363.
Die etwaigen Anträge oder Vorschläge des Untersuchungsausschusses können vom ständigen Internationalen Gerichtshof bestätigt, abgeändert oder aufgehoben werden. Dieser hat gegebenenfalls die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen zu bezeichnen, die er einer schuldigen Regierung gegenüber für angebracht erachtet und deren Anwendung durch die übrigen Regierungen ihm gerechtfertigt erscheint.
Artikel 364.
Richtet sich irgendein Mitgliedstaat in der vorgeschriebenen Zeit nicht nach den in dem Berichte des Untersuchungsausschusses oder in der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofes etwa enthaltenen Vorschlägen, so darf jeder andere Mitgliedstaat ihm gegenüber die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen ergreifen, die der Bericht des Ausschusses oder die Entscheidung des Gerichtshofs in diesem Falle für zulässig erklärt hat.
Artikel 365.
Die schuldige Regierung kann jederzeit den Verwaltungsrat davon in Kenntnis setzen, daß sie die nötigen Maßnahmen getroffen hat, um entweder den Vorschlägen des Untersuchungsausschusses oder denen, die in der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs niedergelegt sind, Folge zu leisten und kann den Verwaltungsrat ersuchen, durch den Generalsekretär des Völkerbunds einen Untersuchungsausschuß zur Nachprüfung ihrer Angaben zu berufen. In diesem Falle finden die Bestimmungen der Artikel 412, 413, 414, 415, 417 und 418 Anwendung. Fällt der Bericht des Untersuchungsausschusses oder die Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs zugunsten der schuldigen Regierung aus, so haben die anderen Regierungen sofort die wirtschaftlichen Maßregeln, die sie gegenüber dem betreffenden Staat ergriffen haben, außer Wirkung zu setzen.
Kapitel 3.
Allgemeine Vorschriften.
Artikel 366.
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die Übereinkommen, denen
sie zugestimmt haben, entsprechend den Bestimmungen dieses Teiles des gegenwärtigen
Vertrags für diejenigen ihrer Kolonien, Besitzungen und Protektorate,
die keine völlige Selbstregierung haben, in Kraft zu setzen, jedoch
unter den folgenden Vorbehalten:
1. Die Anwendbarkeit des Übereinkommens darf nicht durch die örtlichen
Verhältnisse ausgeschlossen sein;
2. die für die Anpassung des Übereinkommens an die örtlichen
Verhältnisse erforderlichen Abänderungen dürfen im eingefügt
werden.
Jeder Mitgliedstaat hat dem Internationalen Arbeitsamte die von ihm beabsichtigte Entschließung hinsichtlich seiner einzelnen Kolonien, Besitzungen oder Protektorate, die keine völlige Selbstregierung haben, mitzuteilen.
Artikel 367.
Abänderungen zu diesem Teile des gegenwärtigen Vertrags, die von der Hauptversammlung mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen angenommen sind, werden rechtswirksam, sobald sie von den Staaten, deren Vertreter den Rat des Völkerbunds bilden, und von drei Vierteln der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.
Artikel 368.
Alle Streitfragen oder Schwierigkeiten aus Anlaß der Auslegung dieses Teils des gegenwärtigen Vertrags und der später von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Teil geschlossenen Übereinkommen unterliegen der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofes.
Kapitel 4.
Übergangsbestimmungen.
Artikel 369.
Die erste Tagung der Hauptversammlung findet im Oktober 1919 statt. Ort und Tagesordnung der Tagung ergeben sich aus der beigefügten Anlage.
Einberufung und Veranstaltung dieser ersten Tagung liegt der dafür in der vorerwähnten Anlage bezeichneten Regierung ob. Bei der Beschaffung der Unterlagen wird diese Regierung durch einen internationalen Ausschuß unterstützt, dessen Mitglieder in der gleichen Anlage genannt sind.
Die Kosten dieser ersten Tagung und jeder folgenden bis zu dem Zeitpunkt, wo die notwendigen Kredite in den Haushalt des Völkerbunds aufgenommen werden können, werden mit Ausnahme der Reise- und Aufenthaltskosten der Vertreter und der technischen Ratgeber auf die Mitgliedstaaten nach dem für das Internationale Bureau des Weltpostvereins festgesetzten Schlüssel umgelegt..
Artikel 370.
Bis zur Errichtung des Völkerbundes werden alle Mitteilungen, die nach den vorstehenden Artikeln an den Generalsekretär des Bundes gerichtet werden sollten, vom Leiter des Internationalen Arbeitsamts aufbewahrt, der den Generalsekretär davon in Kenntnis zu setzen hat.
Artikel 371.
Bis zur Errichtung des ständigen Internationalen Gerichtshofs werden
die ihm kraft dieses Abschnitts des gegenwärtigen Vertrags zu unterbreitenden
Streitfragen einem Gericht überwiesen, das aus drei vom Rate des Völkerbundes
ernannten Personen besteht.
Erste Tagung der Hauptversammlung für Arbeitsfragen 1919.
Versammlungsort ist Washington.
Die Regierung der Vereinigten Staaten wird gebeten, die Hauptversammlung einzuberufen.
Der Internationale Veranstaltungsausschuß besteht aus sieben Personen, von denen je eine von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans, Belgiens und der Schweiz ernannt werden. Der Ausschuß kann, wenn es es für nötig hält, andere Mitgliedstaaten auffordern, sich in ihm vertreten zu lassen.
Die Tagesordnung ist folgende:
1. Durchführung des Grundsatzes des Achtstundentages oder der
48-Stunden-Woche;
2. Fragen hinsichtlich der Mittel zur Verhütung der Arbeitslosigkeit
und zur Beseitigung ihrer Folgen;
3. Beschäftigung der Frauen:
a) vor und nach der Niederkunft (mit Einschluß
der Frage der Mutterschaftsunterstützung),
b) Nachtarbeit,
c) gesundheitsschädliche Arbeiten;
4. Beschäftigung der Kinder:
a) Altersgrenze der Zulassung zur Arbeit,
b) Nachtarbeit,
c) gesundheitsschädliche Arbeiten.
5. Ausdehnung und Durchführung der 1906 in Bern angenommenen internationalen
Abkommen über das Verbot der Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen
und über das Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor
zur Anfertigung von Zündhölzern.
Abschnitt II.
Allgemeine Grundsätze.
Artikel 372.
Die Hohen vertragschließenden Teile haben in Anerkennung dessen, daß das körperliche, sittliche und geistige Wohlergehen der Lohnarbeiter vom internationalen Standpunkt aus von höchster Bedeutung ist, zur Erreichung dieses erhabenen Zieles die in Abschnitt I. vorgesehenen und dem Völkerbund angegliederte ständige Einrichtung geschaffen.
Sie erkennen an, daß die Verschiedenheiten des Klimas, der Sitten und Gebräuche, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und industriellen Überlieferung die sofortige Herbeiführung der vollständigen Einheitlichkeit in den Arbeitsverhältnissen erschweren. Aber in der Überzeugung, daß die Arbeit nicht als bloße Handelsware betrachtet werden darf, glauben sie, daß Verfahren und Grundsätze für die Regelung der Arbeitsverhältnisse sich finden lassen, die alle industriellen Gemeinschaften zu befolgen sich bemühen sollten, soweit ihre besonderen Verhältnisse dies gestatten.
Unter diesen Verfahren und Grundsätzen erscheinen den Hohen vertragschließenden
Teilen die folgenden von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit:
1. Der oben erwähnte leitende Grundsatz, daß die Arbeit
nicht lediglich als Ware oder Handelsgegenstand angesehen werden darf;
2. das Recht des Zusammenschlusses zu allen nicht dem Gesetz zuwiderlaufenden
Zwecken sowohl für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber;
3. die Bezahlung der Arbeiter mit einem Lohn, der ihnen eine nach der
Auffassung ihrer Zeit und ihres Landes angemessene Lebensführung ermöglicht;
4. Annahme des Achtstundentages oder der 48-Stunden-Woche als zu erstrebendes
Ziel überall da, wo es noch nicht erreicht ist;
5. die Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von mindestens
24 Stunden, die nach Möglichkeit jedesmal den Sonntag einschließen
soll.
6. die Beseitigung der Kinderarbeit und die Verpflichtung, für
die Arbeit Jugendlicher beiderlei Geschlechts so einzuschränken, wie
es notwendig ist, um ihnen die Fortsetzung ihrer Ausbildung zu ermöglichen
und ihre körperliche Entwicklung sicherzustellen;
7. der Grundsatz gleichen Lohnes ohne Unterschied des Geschlechts für
eine Arbeit von gleichem Werte;
8. die in jedem Lande über die Arbeitsverhältnisse erlassenen
Vorschriften haben allen im Lande sich erlaubterweise aufhaltenden Arbeitern
eine gereichte wirtschaftliche Behandlung zu sichern;
9. jeder Staat hat einen Aufsichtsdienst einzurichten, an dem auch
Frauen teilnehmen, um die Durchführung der Gesetze und Vorschriften
für den Arbeiterschutz sicherzustellen.
Die Hohen vertragschließenden Teile verkünden nicht die Vollständigkeit oder Endgültigkeit dieser Grundsätze und Verfahren, erachten sie jedoch für geeignet, der Politik des Völkerbunds als Richtschnur zu dienen und, im Falle ihrer Annahme durch die dem Völkerbund als Mitglieder angehörenden industriellen Gemeinschaften sowie der Sicherstellung ihrer praktischen Durchführung durch eine entsprechende Aufsichtsbehörde, dauernde Wohltaten unter den Lohnarbeitern der Welt zu verbreiten.
Durch diesen Teil wurde die heute noch bestehende "Internationale Arbeitsorganisation" gegründet. Der Teil XIII. des Staatsvertrags von St.-Germain-en-Laye (identisch mit dem Teil XIII. des Versailler Vertrags) war hierbei Gründungsakt und Verfassung der Organisation, die eine Unterorganisation des Völkerbundes war.
Der Teil XIII. wurde gemäß seinem
Artikel 422 abgeändert:
- durch Beschluß im Jahr 1922 mit Wirkung
vom 4. Juni 1934
und
- durch Abänderungsurkunde von 1945 mit
Wirkung vom 26. September 1946.
Am 9. Oktober 1946 wurde durch Abänderungsbeschluß der
Organisation eine
Verfassung
gegeben, welche den Teil XIII. des Versailler Vertrags ablöste, die
am 20. April 1948 in Wirkung trat und noch heute mit Änderungen gilt
(geltende Verfassung
/ engl.).